Vertrauen als Grundlage

Einblicke in das Mentoring Programm von fit nach vorn im Bündnis Stuttgart

Der Ausbildungscampus Stuttgart unterstützt seit 2016 durch Mentoring und vielseitige Angebote geflüchtete Jugendliche. Dabei ist der Campus mehr als nur eine Ausbildungsstätte. Lesen Sie in diesem Interview mit Marcela Ulloa, welchen Beitrag er zur individuellen Entwicklung der jungen Menschen leistet.

Der Ausbildungscampus ist eines von 15 Bündnissen des Programms fit nach vorn. Er wurde 2016 auf Anregen der Bürgerinitiative e. V. gegründet, um vor allem junge Geflüchtete zu unterstützen. Heute steht er allen Jugendlichen offen und bietet ihnen ein vielseitiges Angebot. „Bei uns findet alles an einem Ort statt. Unterschiedliche Akteur:innen wie die Handwerkskammer, die Agentur für Arbeit und das Jobcenter halten bei uns auf den Campus Sprechstunden ab,“ beschreibt Marcela Ulloa[1], Leiterin des Ausbildungscampus Stuttgart, die Situation. Hinzu kommen ein Café, verschiedene Beratungen, psychologische Angebote, ein Lernzentrum, sportliche Aktivitäten sowie das Mentor:innenzentrum. Diese kurzen Wege helfen den Jugendlichen, eine Übersicht zu bekommen, Kontakte zu knüpfen und die Unterstützung zu erhalten, die sie benötigen.

„Wir sind gut vernetzt,“ sagt Marcela Ulloa, sodass die jungen Menschen über die verschiedensten Institutionen mit dem Ausbildungscampus in Kontakt zu kommen. Die Mitarbeitenden dort ermuntern sie wieder zu kommen, an Aktivitäten teilzunehmen, die Computer zu nutzen oder sich einfach nur im kostenlosen Café zu treffen. „Wir sagen: Seid einfach da.“ Diese persönliche Ebene ist wichtig und beschreibt die Art, wie sie auf dem Ausbildungscampus arbeiten, sagt Marcela Ulloa. „Es ist einfacher, wenn die Jugendlichen wissen, da ist eine Marcela oder eine Constanze, die können mir helfen.“

Im Interview mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung erzählt Marcela Ulloa, wie es jungen Geflüchteten in Deutschland geht, warum Mentoring eine Bereicherung für jede pädagogische Arbeit ist, warum es trotzdem mehr braucht[2].

Kannst du uns kurz beschreiben, was Mentoring genau ist?

Marcela Ulloa: Ein:e Mentor:in stellt gute Fragen. Wichtige Fragen. So bringt er:sie den Mentee dazu, die Antworten selbst zu finden. Das schafft keine Beratung. Natürlich kann man auch in Beratungen Fragen stellen. Aber der Unterschied ist, dass Mentor:in und Mentee sich über einen längeren Zeitraum häufiger sehen, die Treffen und Themen auch privater Natur sein können. Der:die Mentor:in ist so näher an den persönlichen Prozessen dran und es kann sich wirkliches Vertrauen aufbauen. Also kurz gesagt, begleitet ein:e Mentor:in einen Mentee über einen längeren Zeitraum und unterstützt ihn:sie bei einem bestimmten Thema.

Was sind die Voraussetzungen für eine gute, vertrauensvolle Beziehung zwischen Mentor:in und Mentee?

Marcela Ulloa: Natürlich müssen beide offen sein und Interesse haben. Als Mentor:in muss ich aber auch mit mir selbst im Reinen zu sein. So bin ich in der Lage, Grenzen zu setzen oder mich zurückzuziehen, wenn es zu viel wird oder nach Hilfe zu fragen, wenn ich nicht mehr weiterweiß. Mentor:innen müssen außerdem klar für sich wissen, was ihre Aufgabe ist und sie müssen akzeptieren: Ich bin nicht der:die Retter:in der Welt.

Mentor:innen sollten Selbstwirksamkeit fördern. Das kann schwierig sein: Ich bin in dieser engen Beziehung und merke, wie viel der:die Mentee von mir braucht. Ich merke, wie viel Kompetenzen ich habe. Das verleitet dazu, Entscheidungen vorzuschreiben. Aber das sollten Mentor:innen nicht tun, sie sollten die Lösungen und Wege zusammen mit dem:der Mentee suchen.

Mentees wiederum müssen Hilfe annehmen wollen. Es braucht Ehrlichkeit oder vielleicht eher Transparenz und das auf allen Ebenen. Ständiges Zuspätkommen oder unglaubwürdige Ausreden machen die Beziehung kaputt. Auch Mentees brauchen das Selbstbewusstsein, Grenzen zu setzen oder zu sagen, wenn etwas nicht gut läuft. Sie dürfen das!

Wie begleitet ihr die Mentor:innen und Mentees?

Marcela Ulloa: Damit Mentoring funktioniert, brauchen beide Parteien eine sehr gute Begleitung. Wir haben eine Ansprechpartnerin, die nur für das Mentoringzentrum zuständig ist. Das ist wichtig. Ich sage das extra, weil ich das am Anfang mitgemacht habe, neben vielen anderen Aufgaben. Das geht nicht. Man muss diesen Prozessen viel Achtsamkeit schenken.

Neben Netzwerktreffen, auf denen die Mentor:innen sich austauschen und ins Gespräch kommen können, bieten wir Supervisionen zu Themen wie Nähe / Distanz an. Da geht es darum: Soll mein Mentee zu mir nach Hause kommen? Oder, was mache ich, wenn ich zu viel Raum gegeben habe und mich nicht wohl damit fühle?

Außerdem bieten wir Gruppenangebote für die Mentees an. Hier werden verschiedene soziale und kulturelle Themen besprochen. Manchmal fragen wir auch einfach nur: Wie läufts? Was brauchst du noch?

Wer sind die Menschen, die zu euch kommen?

Marcela Ulloa: Wir sind vorwiegend für Geflüchtete da oder auch für Menschen mit Migrationshintergrund. Wir nehmen aber jede Person in der Beratung, auch deutsche.

Die Mehrheit der jungen Menschen, die zu uns kommen, sind zwischen 16 und 25 Jahre alt. Zu manchen Projekten können aber auch 14- und 15-jährige kommen.

In Deutschland geht man davon aus, dass man bis zu einem Alter von 15 Jahren jugendlich ist. Ab da sollte man das Leben irgendwie im Griff haben. Das trifft aber auf die Jugendlichen, die zu uns kommen, nicht zu. Sie müssen ja, wenn sie in Deutschland ankommen, zunächst die Sprache und Kultur lernen, sie müssen die Einheimischen kennen und verstehen lernen. Sie müssen deshalb auch in der Schule einiges wiederholen. Das heißt, sie kommen viel später in die Ausbildung als die meisten deutschen Jugendlichen. Wenn jemand zum Beispiel mit 22 Jahren nach Deutschland kommt, ist er vielleicht nicht bis zu seinem 25. Geburtstag in einer Ausbildung. Da sollten wir Rücksicht drauf nehmen!

Welche Herausforderungen haben die Jugendlichen zu bewältigen?

Marcela Ulloa: Die Verbindung zur Herkunftskultur spielt eine große Rolle. Viele der jungen Menschen müssen oder wollen Geld nach Hause schicken. Sie wollen unbedingt Geld verdienen. Manche wollen deshalb keine Ausbildung machen, sondern direkt arbeiten. Ich kenne einen jungen Mann, der 90% von dem, was er verdient hat, nach Hause geschickt hat, er hat nicht mal richtig gegessen.

Auch soziale oder kulturelle Themen können den jungen Menschen zu setzen, wie zum Beispiel das Heiratsthema. Oft erwarten die Familien, dass die Jugendlichen heiraten und suchen zum Beispiel nach Bräuten in den Herkunftsländern. Das ist ein großer Druck, das darf man nicht unterschätzen.

Wir erwarten, dass die jungen Menschen hier sozusagen gerade auslaufen, dass sie sich einfügen und in Deutschland auskennen. Wir wollen also zum Beispiel, dass sie eine Ausbildung machen – und sie kommen mit Fragen wie: Wie finde ich eine Frau? Für sie ist dieses Thema erstmal viel dringender.

Natürlich hat auch die politische, ökonomische oder soziale Situation der Herkunftsländer einen großen Einfluss auf die Menschen. Beispielsweise kann die jetzige Situation im Iran, Frauen, die eigentlich schon mehrere Jahre in Deutschland sind, retraumatisieren.

Wenn wir die jungen Menschen gut begleiten wollen, müssen wir diesen Umständen Raum geben. Wir müssen die Themen und Situationen bearbeiten, die sie beschäftigen. Zum Beispiel: Jemand ist gestorben und der:die Jugendliche kann nicht zur Beerdigung reisen, weil er:sie in Deutschland nur geduldet ist und das Land nicht verlassen darf. Oder: Viele der Menschen stehen obwohl sie so weit weg von zuhause sind, noch immer im Zentrum der Familie und müssen alles regeln.

Ich denke, wir geben diesen Menschen sehr wenig Zeit anzukommen und sich zu finden.

Was an dem Konzept des Mentorings hilft den Menschen, mit diesen besonderen Herausforderungen?

Marcela Ulloa: Mentoring hilft den Mentees sich auf die Themen zu fokussieren, die sie beschäftigen, zum Beispiel auf die Suche nach einer Ausbildung. Die Mentor:innen sind für sie da, haben ein offenes Ohr und stellen wichtige Fragen, die sie auf den Weg bringen. Das Fokussieren ist wichtig, weil die Mentees mit so vielen Herausforderungen konfrontiert sind. Ein:e Mentor:in kann da beim Ordnen helfen.

Außerdem kann Mentoring den Mentees dabei helfen, aus der Opferrolle herauszukommen. Eine gute Mentoring-Beziehung sollte ein Austausch sein von Geben und Nehmen. Dafür brauchen die Mentor:innen natürlich auch diese Demut, auch annehmen zu können. Für die Mentees ist es sehr wichtig, auch geben zu dürfen. So können sie ihrem:ihrer Mentor:in danken und kommen gleichzeitig aus der Rolle des Bedürftigen heraus – auch sie können unterstützen.

Gibt es Grenzen des Konzepts?

Marcela Ulloa: Das ist ein wichtiger Punkt. Mentor:innen machen eine sehr wichtige Arbeit und können ihre Mentees bei vielem sehr gut unterstützen. Und trotzdem: Viele der Menschen, die zu uns kommen, sind traumatisiert. Manche brauchen deshalb zunächst eine psychologische Beratung, bevor sie sich zum Beispiel eine Ausbildung suchen können. Das können die Mentor:innen nicht leisten. Sie engagieren sich ehrenamtlich und sind keine ausgebildeten Psycholog:innen oder Pädagog:innen. Wir haben deshalb eine Psychologin am Campus, zu der die Mentor:innen ihre Mentees verweisen können, wenn sie merken, dass es ihnen nicht gut geht.

Außerdem ist der Ausbildungscampus eins von 15 fit nach vorn-Bündnissen. Alle Besucher:innen unseres Campus haben die Möglichkeit an diesen Angeboten teilzunehmen – natürlich auch die Mentees des Mentorenzentrums. In den Feriencamps und Sportangeboten lernen die Jugendlichen nicht nur deutsch und andere wichtige Fähigkeiten, sie können Freundschaften schließen, Selbstwirksamkeit erfahren und erhalten so Motivation, ihr Leben in die Hand zu nehmen.

Ich sage immer: Es braucht mehr als eine:n Mentor:in. Es braucht mehr als eine persönliche Beratung. Es braucht mehr als eine Psychologin. Es braucht mehr als ein Lernzentrum – es braucht die Summe des Ganzen!

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[1] Marcela Ulloa hat den Ausbildungscampus im August 2023 verlassen. Neue Leiterin ist Constanze Nusse.

[2] Das Interview ist im Rahmen der Recherchen für einen Artikel der Publikation „22 Prozent – Die Übersehenen am Übergang in die Ausbildung“ entstanden. Der Fokus des Gesprächs liegt deshalb auf dem Konzept des Mentoring.