© DKJS/Ente Bagdad

Das Plus an Gemeinschaft und Lebensfreude

Reportage im Bündnis Mainz am 24. September 2023

Ob Alltagshilfe, Vernetzung untereinander oder einfach unbeschwerte Momente – im Mainzer fit nach vorn-Bündnis erhalten geflüchtete Mütter aus der Ukraine psychologisch-soziale Begleitung.

Ein Mädchen sitzt auf der Schulter seiner Mutter und singt. Ein kleiner Junge flitzt auf dem Laufrad vorbei, dicht gefolgt von einer anderen Frau. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches für einen Sonntagvormittag an der Mainzer Rheinpromenade. Doch aufmerksamen Passant:innen fällt auf, dass beide Mütter mit Abfallzangen Müll vom Boden auflesen und sich dabei auf Ukrainisch unterhalten. Um sie herum viele weitere Frauen, Kinder und Männer verschiedener Nationen – ebenfalls mit Müllgreifern ausgestattet.

Unbeschwerte Stunden für Geflüchtete

Eine Passantin fragt, was es mit der Aktion auf sich habe. „Wir wollen was für die Natur tun“, sagt Anna, die Mutter des Mädchens, in leicht gebrochenem Deutsch. Stefanie, die Mutter des Jungen, ergänzt: „Mainz hat viel für Geflüchtete getan, heute geben wir etwas zurück.“ Etwas für die Umwelt tun und sich dankbar zeigen, ist jedoch nur ein Anlass für den „Dreck-Weg-Tag“ des fit nach vorn-Bündnisses. Die Organisatoren, Ronald Uhlich und Stefan Schirmer vom FC Ente Bagdad, hoffen vor allem eins: „Dass die Frauen und Kinder an einem sonnigen Tag wie heute rauskommen, ein paar unbeschwerte Stunden erleben und sich austauschen können.“ Schon das Zusammentreffen der etwa 30 Geflüchteten und Ehrenamtlichen ist herzlich: Man kennt sich, viele Frauen umarmen einander. Die Kinder, überwiegend im Kita- und Grundschulalter, sind fasziniert von den Müllzangen und können es kaum erwarten, bis es endlich losgeht.

Unterstützung und Kontakt zu Gleichgesinnten

Die meisten der heutigen Teilnehmenden sind geflüchtete Frauen aus der Ukraine, viele leben alleine mit ihren Kindern in Wohnheimen, als Alleinerziehende auf sich gestellt: „Frauen machen alles alleine, Orga, Kinder“, versucht Anna ihre Situation zu beschreiben. „So schwer“ sei der Gedanke an ihren Mann, der als Soldat in der Ukraine kämpft. Immerhin gehe es ihr jetzt schon etwas besser als direkt nach der Ankunft, erzählt sie. Denn über den FC Ente Bagdad, wo ihr Sohn Fußball spielt, fand Anna Kontakt zu anderen Müttern und Unterstützung im Alltag. Denn der Verein bietet nicht nur Sportaktivitäten für geflüchtete junge Erwachsene und Kinder, sondern auch praktische Hilfe bei organisatorischen Dingen, Sprechstunden für Mütter sowie kulturelle und soziale Aktivitäten an.

Angebote fördern die mentale Gesundheit

„Egal was wir tun – das Wichtigste ist, dass die Frauen zusammenkommen und sich austauschen können“, findet Ilona Rubin, die sich im Mainzer Bündnis fit nach vorn als Integrationslotsin und Sprachmittlerin engagiert. Die gebürtige Ukrainerin ist in Deutschland aufgewachsen und organisiert die von der DKJS finanzierten und bewusst niedrigschwellig gehaltenen „Plus-Angebote“ des Vereins mit. Die Kino- und Theaterbesuche, Ausflüge und Feste sollen die mentale und psychologisch-soziale Gesundheit geflüchteter Mütter stärken. „Sie wollen rauskommen, sich unterhalten, Gemeinschaft erleben – und das bekommen sie bei uns“, erklärt Ilona. Sie nutzt überwiegend Messenger-Gruppen, um die Angebote des Bündnisses zu kommunizieren. „Als ich im Frühjahr 2022 eine Gruppe für Ukrainerinnen gestartet habe, dachte ich noch, es handle sich um maximal sechs Wochen, bis der Krieg vorbei ist.“ Jetzt ist Ilona immer noch dabei und „quasi rund um die Uhr“ erreichbar, begleitet aufs Amt, bei Wohnungsbesichtigungen oder auf andere wichtige Termine. Die Komplementärmedizinerin wünscht sich mehr bezahlte Stellen für die Arbeit mit Geflüchteten. Denn viele Ehrenamtliche müssten beruflich zurückstecken, um helfen zu können. „Man bekommet viel Dankbarkeit zurück, aber davon kann man ja nicht die Miete zahlen.“

Schwieriger Alltag alleine mit Kind

Über die Messenger-Gruppe hat auch die Ukrainerin Stefanie vom heutigen Aktionstag erfahren. Die junge Mutter ist mit ihrem jetzt vierjährigen Sohn aus Odessa geflohen. „Wir haben uns versteckt vor den Raketen“, erzählt sie. Der Junge sei verängstigt, vermisse seine Oma und Haustiere – und ist immer an der Seite seiner Mutter. Denn einen Kita-Platz erhält er erst in ein paar Wochen. Beim Erzählen beugt sich Stefanie regelmäßig zu ihm hinunter, hält die Mülltüte auf, reicht die Wasserflasche, tröstet und ermutigt zum Weiterlaufen. „Es ist schwer, im Alltag etwas zu erledigen, wenn das Kind immer dabei ist.“ Umso mehr freut sie sich, dass ihr Sohn bald in den Kindergarten geht: „Dann habe ich mehr Luft zum Atmen und kann mich noch mehr in der Gruppe engagieren.“ Stefanie hat in Odessa Germanistik studiert und kann deshalb anderen Geflüchteten mit ihren Deutschkenntnissen weiterhelfen.

Kaum Chancen auf Berufstätigkeit

Irina hingegen kämpft noch mit Sprachbarrieren. Als sie letztes Jahr mit ihrer Nichte in Deutschland ankam, konnte sie gerade mal „Guten Morgen“ und „Dankeschön“ sagen. Mittlerweile hat sie einen Deutschkurs besucht und kann sich deutlich besser verständigen. Doch auch das reicht noch nicht aus, um hier in ihren angelernten Berufen als Juristin oder Hebamme zu arbeiten. „Aber ich lebe, immerhin“, sagt sie. Sie sorgt sich um ihren 18-jährigen Sohn in der Ukraine und freut sich über die Ablenkung. „Ich kann mich bewegen, etwas machen und mit Leuten sprechen.“ Nach ihren Wünschen befragt, sind sich alle Teilnehmenden – ob Geflüchtete oder Ehrenamtliche – einig: „Dass der Krieg endet und das Leben ,normal‘ weitergeht“, „einfach nur Frieden“ und „eine Zukunft für die Kinder“.

Netzwerke und Freundschaften entstehen

„Wie sehr sich das Leben ukrainischer Geflüchteter von einem auf den anderen Tag verändern kann, ist nur schwer vorstellbar“, gibt Stefan Schirmer zu bedenken. „Viele kommen aus guten Verhältnissen, leben nun beengt in Wohnheimen und kennen sich vor Ort nicht aus.“ Stefan engagiert sich von Beginn an im Vorstand des FC Ente Bagdad und hält die heutige Aktion fotografisch fest. Er freut sich, dass so viele Mütter die Gelegenheit zur Bewegung und zum Austausch nutzen und bei bestem Wetter sichtlich Spaß haben. „Durch unsere Aktionen entstehen kleine Netzwerke. Viele der Mütter unternehmen mittlerweile auch privat etwas zusammen – oft hilft es eben schon, wenn man sich nicht mehr so alleine fühlt.“

Familiärer Charakter

Ronald Uhlich, der den mehrfach ausgezeichneten FC Ente Bagdad vor 50 Jahren gegründet hat, berichtet von der anfänglichen Zurückhaltung der ukrainischen Geflüchteten. Doch nicht zuletzt durch das Engagement der Integrationslotsinnen sei die Gruppe stetig gewachsen: „Wir sind eine richtige Gemeinschaft. Wenn ich jemanden in der Stadt treffe, gibt es Umarmungen.“ Die Nachrichten, die Ronald und Stefan an die Vereinsmitglieder schreiben, beginnen mit „Liebe Entenfamilie…“.  Und zu dieser Familie gehören nicht nur Geflüchtete, sondern viele Menschen aus nunmehr 25 Nationen, die oft schon seit Jahrzehnten in dem Verein Fußball spielen oder sich dort engagieren.

Ehrliches Interesse an den Menschen

Einer der zahlreichen Ehrenamtlichen, die bei der Müllsammelaktion dabei sind, ist „Wurzel“, der die Kinder beim FC Ente Bagdad trainiert und sie auf Stadionbesuche beim Bundesligisten Mainz 05 oder andere Familienveranstaltungen begleitet. Ebenfalls mit dabei ist Heiko, der dieses Jahr mit Ronald und anderen Vereinsmitgliedern nach Ruanda gereist ist, „um die Heimat einer Ente kennenzulernen.“ Diese „Ente“ ist Gaspard, der seit fast 30 Jahren in Mainz lebt und heute ebenfalls fleißig mitsammelt. Höhepunkt der Vereinsreise in seine Heimat war die Unterstützung beim Wiederaufbau eines flutbetroffenen Hauses. „Solche sozialen Aktionen finden in Ruanda einmal im Monat statt – da könnte Deutschland in Sachen freiwilliges Engagement noch Einiges lernen“, findet Heiko. Das ehrliche Interesse der Ehrenamtlichen am Leben aller Menschen aus der „Entenfamilie“ und die Begegnung auf Augenhöhe tragen dazu bei, dass sich auch die ukrainischen Geflüchteten in der Gemeinschaft sichtlich wohl fühlen.

Gemeinschaft macht Mut

Als sich die Gruppe zum Abschlussfoto am Rheinufer versammelt, halten die Teilnehmenden eine ukrainische Flagge und den Vereinsschal vom FC Ente Bagdad in die Höhe. „You‘ll never watschel alone“ steht darauf. Ein Motto, das zwar lustig klinge, aber sehr ernst gemeint sei, betont Ronald. „Der Verein hilft uns Sachen zu erledigen und bringt uns zusammen“, bestätigt Anna, die letztes Jahr mit ihrem Mann, einem Iraner, sowie mit einem kleinen Kind und hochschwanger aus der Ukraine geflohen ist. Die junge Frau schwärmt von den guten Ideen und der Hilfsbereitschaft in der Gruppe. Auch sie hat die „Enten-DNA“ längst verinnerlicht: „Jeder hat in der Seele was, um zu helfen. Je mehr wir sind, desto mehr können wir schaffen.“

Text: Carolin Grehl

Fotos: Stefan Schirmer für den FC Ente Bagdad