„Wir brauchen 1000 Mal fit nach vorn“
Staatsministerin Reem Alabali-Radovan beim fit nach vorn-Bündnis Rostock
Darüber tauschte sich Ende März Staatsministerin Reem Alabali-Radovan, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus, mit jungen Geflüchteten, Akteur:innen des fit nach vorn-Bündnis‘ Rostock der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) sowie der Oberbürgermeisterin der Hansestadt Eva-Maria Kröger und weiteren Kommunalvertretenden aus.
Wie ist es, wenn man als junger Mensch aus einem anderen Land nach Deutschland kommt? Ohne Sprachkenntnisse, ohne Hilfe, ohne Familie oder bekannte Menschen, gestrandet in einer Welt, die einem in jeder Hinsicht fremd ist. In diesem Moment braucht es Anlaufstellen, die diese Kinder und Jugendlichen auffangen, sie willkommen heißen und beraten. In großen Städten findet man dies häufig, aber oft ist das Angebot zu gering für den tatsächlichen Bedarf. Im ländlichen Raum wird es noch schwieriger. Da fehlen die Angebote zum Teil gänzlich. Somit schließen die Beratungs- und Begleitungsangebote der bundesweit 15 Bündnisse von fit nach vorn spürbar Lücken. Möglich wird die Bündnisarbeit durch die Förderung des Hauses von Staatsministerin Reem Alabali-Radovan. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus kennt Flucht aus ihrer eigenen Geschichte und sieht Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern als ihre Heimat an. Da liegt ein Projektbesuch beim Bündnis Rostock nahe.
Bei fit nach vorn bietet der Sport einen spielerischen Einstieg und gemeinsames Kennenlernen. Die jungen Menschen erleben ein Gemeinschaftsgefühl und Teamgeist. So schaute sich die Staatsministerin ein Fußballtraining in der Sporthalle der Borwinschule in Rostock an. Sie unterhielt sich mit einigen jungen Geflüchteten sowie ihrem Trainer Daniel Netzband, Streetworker bei Soziale Bildung e.V.
Die Beratung fängt mit dem Sport an
Im Rostocker Bündnis bieten die Partner:innen – der Soziale Bildung e. V. (SoBi), der Ökohaus e. V. und der Internationale Fußballclub Rostock e. V. (IFC) – den jungen Geflüchteten zusätzlich zum gemeinsamen Sport Beratungen an und unterstützen sie bei ihrem Weg durch die Schule, in Ausbildung und Beruf.
Stephan Kurth vom Soziale Bildung e. V., der die Bündnisangebote koordiniert, formulierte dies in einem Gespräch mit der Staatsministerin und Anne Rolvering, Vorsitzende der Geschäftsführung der DKJS: „Die Beratungen fangen auf dem Sportplatz an. Wenn die Kinder dreimal dabei gewesen sind, kommen die Themen meist von ganz allein. Ganz viel läuft über einen Vertrauensvorschuss. Es ist wichtig, ein Netzwerk zu haben, das man großflächig knüpft. Wir begleiten die Jugendlichen so lange, wie sie es zulassen, und versuchen ihnen die notwendigen Werkzeuge an die Hand zu geben. Wir casten zum Beispiel auch Unternehmen, um Ausbildungsplätze vermitteln zu können.“ In Rostock werden neben Fußball auch Beachvolleyball und ein Wassergewöhnungs- und Wasserbewältigungskurs angeboten, die durch unterschiedliche Angebote wie das „Beratungscafé“ ergänzt werden.
Welche Bedarfe die jungen Menschen haben und wie man ihnen begegnen kann, wurde in der folgenden Gesprächsrunde deutlich. Eröffnet von Anne Rolvering, bedankte sich die Staatsministerin bei den Anwesenden für ihr Engagement und ihre Teilnahme. „Für mich ist Sport der Integrationsmotor. Über Vereine oder Sportprojekte kommen Menschen zusammen, die sonst nicht zusammenkommen würden. Es ist egal, woher man kommt, welches Geschlecht oder Alter man hat. Man kommt zusammen und macht gemeinsam Sport. Darum ist es mir wichtig, Projekte wie dieses zu fördern.“ Vor allem die Bereiche der Jugendarbeit haben nach ihrer Meinung einen hohen Stellenwert, da dort die Gelder meist knapp sind. Nachdem sowohl fit nach vorn als auch das Bündnis Rostock genauer vorgestellt wurden, schilderten drei Jugendliche mit Fluchtgeschichte ihre Erfahrungen. Eine von ihnen ist die Rostockerin Shagayegh Mohamadian, die mit ihrer Familie 2010 im ländlichen Raum ankam und dort keine Informationen über etwaige Angebote der Teilhabe oder Integration erhielt. Erst mit ihrer Ankunft in Rostock und dem Zusammentreffen mit SoBi im Jahr 2014 habe sich das geändert. Mittlerweile befindet sich die junge Frau in einer Ausbildung zur Krankenschwester, hat ihr erstes eigenes Buch „Gedankenwelt“ veröffentlicht und hilft anderen Geflüchteten beim Ankommen in Deutschland. „Ich freue mich immer, wenn Donnerstag ist und ich zu SoBi kann, um zum Beispiel über meine Ausbildung zu sprechen“, sagt Shagayegh Mohamadian.
Weniger Bürokratie und mehr vernetzte Angebote nötig
Die Oberbürgermeisterin Eva-Maria Kröger lobte die aufgebauten Netzwerke und die Sichtbarkeit durch fit nach vorn. Sie machte deutlich, dass die starke Zivilgesellschaft in Rostock vor allem durch individuelle Akteur:innen entstanden sei. „Wir tun aber bei Weitem noch nicht das, was wir tun wollen. Grundsätzlich sind die Kommunen die Orte des Ankommens. Am Ende tragen wir hier die Arbeit.“ Sie wünscht sich mehr Freiheit und weniger bürokratischen Aufwand: „Wir brauchen kein Geld, sondern Bürokratieentlastung. Dadurch hätte ich Ressourcen frei, um sie sinnstiftender einzusetzen.“
Sebastian Trettin, Ökohaus e.V., unterstrich die Aussage und betonte, dass das Thema Flucht und Migration nicht mehr aufhören werde und der Umgang damit daher aktiv gestaltet werden müsse. Der Bedarf an dezentralen Unterkünften und mehr Integration in Schule waren weitere Themen der Runde. „Ich würde mir 1000 Kopien des Bündnisses wünschen“, sagte Martin Quade vom IFC und ergänzte, dass sich der Club mit anderen Institutionen in Rostock zusammengetan und das Projekt kopiert habe, um den Menschen in der Flüchtlingsunterkunft in der Industriestraße in Rostock-Schmarl einen Ausgleich zu bieten und über Beziehungsarbeit die Bedarfe zu erkennen. „Wir haben mittlerweile in unseren Bündnissen migrantische Teamerinnen, die Selbstbewusstsein ausstrahlen und eine Vorbildfunktion haben“, ergänzte Stephan Kurth. Seine Kollegin Claudia Lübcke, Jugendsozialarbeiterin bei SoBi und unter anderem im Beratungscafé tätig, betonte, dass es niedrigschwelliger mobiler Angebot bedürfe, da in der Netzwerkarbeit viel Luft nach oben sei. „Es gibt junge Geflüchtete, die mit Mitte zwanzig zu uns kommen, schon den Asylantrag gestellt haben, aber gar nicht wissen, wie Asylverfahren in Deutschland ablaufen, welche Rechte sie haben und wo sie sich Unterstützung holen können, wenn es dazu Fragen oder Probleme gibt. Ich glaube, dass wir uns selbst organisieren und engagieren müssen.“
Eine Aussage, die nicht nur auf Seiten der Bündnispartner:innen zu finden war, sondern auch von Sayed Hashimi von der Initiative „Jugend spricht“ betont wurde. Auf Seiten der Migrant:innen schlummert ein großes Potenzial, das auch in der Integrationsarbeit genutzt werden sollte. Der gebürtige Afghane arbeitet 30 Stunden in der Woche als Architekt und in der restlichen Zeit engagiert er sich in seiner 2019 gegründeten Initiative. „Ich finde es wichtig, dass am Anfang die Strukturen erklärt werden. Wir haben in Afghanistan keine Vereinsarbeit und müssen es erst verstehen. Ich habe Lust, etwas beizutragen, und diese Ressourcen müssen auch genutzt werden.“
Mehr zu fit nach vorn: fit-nach-vorn.de
Mehr zur Integrationsbeauftragten: www.integrationsbeauftragte.de
Text: Antje Benda, DKJS
Fotos: Birgit Döring